Hochwasserereignisse im Odergebiet: Das Julihochwasser 1903

Hydrometeorologische Situation

Niederschlag Juli 1903
Abb. 1: Niederschlag im oberen und mittleren Odergebiet vom 9.-11. Juli 1903
(Kartenentwurf der Landesanstalt für Gewässerkunde, veröffentlicht in [3], Ausschnitt mit verändert dargestellter Niederschlagslegende)

Anfang Juli 1903 stand Mitteleuropa unter dem Einfluss eines Hochdruckgebietes, das sich am 4. Juli nach Westen verlagerte, wobei das an seinem Ostrand gelegene obere Odergebiet mäßige Niederschläge erhielt. Ab dem 6. Juli setzte von Norden und Nordwesten eine deutliche Abkühlung ein. Mitteleuropa stand nun unter dem Einfluss eines ausgeprägten Tiefdruckgebietes über der Nordsee, dessen Wirkungsbereich bis nach Westungarn reichte und an dessen Rand im Odergebiet weitreichende Niederschläge von geringerer Intensität zu verzeichnen waren. Am 7. Juli schob sich ein Hochdruckkeil nördlich der Alpen von Westen nach Osten und teilte die Tiefdruckgebiete in einen nördlichen Kern an der damaligen ostpreußisch-russischen Grenze und einen südlichen östlich von Budapest. Im oberen Odergebiet fielen an diesem Tag vielfach über 30 mm Niederschlag. Am 8. Juli traten nur im rechtsseitigen Oberlaufgebiet der Oder stärkere Niederschläge ein, die aber unter 50 mm blieben. Insgesamt führten die Niederschläge vom 4.-8. Juli zu einer weitreichenden Durchtränkung der Böden. [1][2][4]
Am 9. Juli bewirkte die Annäherung des südöstlichen Tiefdruckgebietes auf der Zugstraße Vb an den Hochdruckkeil im Nordwesten starke Luftdruckunterschiede im Odergebiet, als deren Folge ungewöhnlich hohe Niederschläge eintraten. Über die Niederschlagsintensität während der Starkregenphase vom 9.-11. Juli gibt Abb. 1 Auskunft. Innerhalb von 48 Stunden fielen im östlichen Quellgebiet der Nysa Kłodzka (Glatzer Neiße) bis über 300 mm Niederschlag. Von diesem Regenherd zog sich ein breiter Streifen nach Nordosten, in dem in diesen zwei Tagen mindestens 100 mm Regen niedergingen. Ein zweiter Regenherd lag in den Westbeskiden, wo auf dem Lysá hora (Kahlberg) in den betrachteten 48 Stunden über 260 mm Niederschlag gemessen wurden. Im Flussgebiet der Nysa Kłodzka (Glatzer Neiße) fiel der stärkste Regen vom 9.-10. Juli, in den Beskiden vom 10.-11. Juli. Im weiteren Verlauf des 11. Juli ereigneten sich im Odergebiet nur noch strichweise stärkere Regenfälle. Der Luftdruck über Mitteleuropa nahm ab, das Tiefdruckgebiet verlagerte sich weiter nach Nordosten. Ergiebige Niederschläge traten infolge von Gewittern nur noch am 13. Juli auf, insbesondere im Gebiet von Bóbr (Bober) und Warta (Warthe). [2][3][4]

Ablauf des Hochwassers

Obgleich die größte Regenhöhe in den Beskiden erst einen Tag später einsetzte als in den Sudeten, traten dort die ersten Hochwasser auf, da die Fließgewässer der Beskiden in den Vortagen mehr Niederschlag erhalten hatten und bereits am 7. Juli beträchtliche Wasserstände aufwiesen. Dennoch gelangte die erste bedeutende Hochwasserwelle am 10. Juli durch die aus den Sudeten kommende Osobłoga (Hotzenplotz) in die Oder. Am 12. Juli vereinigte sich die Hochflut der Nysa Kłodzka (Glatzer Neiße) mit der durch die Osobłoga (Hotzenplotz) stark gehobenen Oder und erzeugte damit eine starke Flutwelle im Oderstrom, zu der auch die Hochfluten von Stobrawa (Stober) und Mała Panew (Malapane) beitrugen. Zwei Tage später entstand aus der Überlagerung der Hochwasserwelle aus der Opava (Oppa) mit den Hochfluten aus den Beskidengewässern Ostravice (Ostrawitza) und Olza (Olsa) eine weitere bedeutende Flutwelle. Die beiden Oder-Flutwellen vereinigten sich am 15. Juli im überschwemmten Becken oberhalb von Wrocław (Breslau). Der Scheitel der Oderflut erreichte am 21. Juli Fürstenberg (Eisenhüttenstadt) und Frankfurt/Oder. Eine bedeutende Verstärkung erfuhr das Oderhochwasser erst wieder durch die Wassermassen der Warta (Warthe), die ein extremes Sommerhochwasser führte. Das Warta (Warthe)-Hochwasser entstand durch ausgedehnte Regenfälle in ihrem Oberlaufgebiet und im Flussgebiet der Prosna. Der Hochwasserscheitel der Oder, der am 23. Juli Kostrzyn (Küstrin) erreichte, ging dem Eintreffen des Flutscheitels der Warta (Warthe) 3-4 Tage voraus, so dass die Warta (Warthe) vor allem zu einer Verlängerung des Hochwasserereignisses an der Oder führte. [2][3]
Der maximale Abfluss der oberen Oder erreichte nach Berechnungen bei Racibórz (Ratibor) 2000 m³/s und oberhalb von Wrocław (Breslau) 2300 m³/s. Für die Oder bei Koppen (zwischen der Mündung der Nysa Kłodzka (Glatzer Neiße) und Brieg (Brzg)) wurde für den Fall, dass sich keine Deichbrüche ereignet hätten, ein Spitzenabfluss von 2500 m³/s angenommen. Messungen an der mittleren und unteren Oder erbrachten Abflussmaxima von 1738 m³/s am 20. Juli bei Połecko (Pollenzig) bzw. 2040 m³/s am 24. Juli bei Hohensaaten. Der Maximalabfluss der Warta (Warthe) bei Gorzów Wielkopolski (Landsberg) wurde mit 730 m³/s für den 27. Juli angegeben. Es handelte sich um das größte Sommerhochwasser der Warta (Warthe) seit Beginn der Messungen. [1][3]
Mit dem Sommerhochwasser 1903 gingen viele Deichbrüche von der oberen bis zur unteren Oder einher. Von der damaligen deutschen Landesgrenze bis zur Mündung der Nysa Kłodzka (Glatzer Neiße) wurden 331 km² überschwemmt, von Koppen bis Hohensaaten standen inklusive der Ausuferungen an der unteren Warta (Warthe) 788 km² unter Wasser. Die Überschwemmungen dauerten zwischen Koppen und Hohensaaten durchschnittlich 15 bis 25 Tage. Im Oderabschnitt zwischen Groß Neuendorf und Güstebiese sowie an der unteren Warta (Warthe) erstreckten sich die Überflutungen sogar über 35 bzw. 33 Tage. [3]

Schadensbilanz

Deichbrüche bei Kottwitz 1903
Abb. 2: Deichbrüche am Kottwitz-Raaker Deich im Sommer 1903 (Ausschnitt aus Kartenbeilage zu [7], Legende verschoben)

In Schlesien kamen 5 Menschen unmittelbar durch das Hochwasser ums Leben. [8]
An den Gebirgsgewässern des oberen Odergebiets entstand ein relativ hoher Anteil des Gesamtschadens an Gebäuden, Brücken, Wehren, gewässernahen Straßen und Wegen. Besonders schwere Verheerungen waren im Gebiet der Nysa Kłodzka (Glatzer Neiße) sowie an Osobłoga (Hotzenplotz) und Opava (Oppa) zu verzeichen. Im Kreis Racibórz (Ratibor) wurden 8 Ortschaften ganz und 27 teilweise überschwemmt. [3][5][8]
In den Niederungen wurden zahlreiche Dämme und Deiche beschädigt, wie z.B. bei Kotowice (Kottwitz) zwischen Oława (Ohlau) und Wrocław (Breslau) (Abb. 2). Der Schifffahrt und der Oderstrombauverwaltung entstanden erhebliche Schäden durch die vom Hochwasser verursachten Versandungen des Oderbetts. [3][6][7]
Den weitaus größten Teil des hochwasserbedingten Gesamtschadens verursachte die weiträumige Überschwemmung von landwirtschaftlichen Nutzflächen. Viele Landwirte hatten noch mit den Folgen des starken Sommerhochwassers im Juni 1902 zu kämpfen, als die Flut im Juli 1903 mit noch ausgeprägterer Intensität eintrat. Die lange Überstauung und der Eintrag von Sand, Schlamm und in den höheren Lagen auch von Geröll wirkten sich sehr schädlich auf die landwirtschaftlichen Kulturen aus. In einigen Orten wurde die Ernte fast völlig vernichtet. [5][8][9]
Der Gesamtschaden des Sommer-Hochwassers 1903 wurde für das Odergebiet wie folgt beziffert (in Mark): Provinz Schlesien 21,5 Millionen, Provinz Brandenburg 3,5 Millionen und Provinz Posen (inklusive Hochwasserschäden im Weichselgebiet) über 3 Millionen, Provinz Pommern 0,3 Millionen. An der Schadenssumme für Schlesien hatte der Verlust an Feldfrüchten einen Anteil von über 15 Millionen Mark. [8][9]

Stoffliche Belastung

Oder bei Wrocław (Breslau)/Popowice (Pöpelwitz), Hochwasser 1903: Durchfluss und Wasserinhaltsstoffe
Abb. 3: Durchfluss und Tagesfracht ausgewählter Wasserinhaltsstoffe der Oder bei Wrocław (Breslau)/Popowice (Pöpelwitz) vom 6. bis 31. Juli 1903 (nach Daten aus [10])

Gezielte Untersuchungen zu den Auswirkungen des Sommerhochwassers 1903 auf die Wasserbeschaffenheit der Oder erfolgten bei Popowice (Pöpelwitz) unterhalb von Wrocław (Breslau). Wesentliche Ergebnisse sind in Abb. 3 dargestellt. Die größte Schwebstofffracht (33600 t/d) wurde bereits einen Tag vor dem Durchflussmaximum am 15. Juli abgeführt, während die maximale Tagesfracht an Abdampfrückstand (19900 t/d), Kalzium (5400 t CaO/d), Magnesium (900 t MgO/d) und Chlorid (700 t Cl/d) erst nach dem Durchflussscheitel im Oderwasser enthalten war. Im Zeitraum vom 6.-31. Juli führte die Oder bei Popowice (Pöpelwitz) eine Gesamtfracht an Schwebstoffen von 129000 t. [10]

Quellen, Literatur, Berichte

Hydrometeorologie, Hochwasserablauf
  • Anonymus (1903a): Wetterkunde. - Der Kulturtechniker 6: 247-255, Breslau
  • [1] Keller, H. (1903): Die Hochflut in der Oder vom Juli 1903, ihre Ursachen und die Abwehr der Hochwasser-Gefahren. - Deutsche Bauzeitung 37 (90/91): 580-584, 586-592, Berlin
  • [2] Fischer, K. (1904): Entstehung und Verlauf des Oderhochwassers im Juli 1903. - Geographische Zeitschrift 10: 316-332, Leipzig
  • Keller, H. (1904): Die Hochwassererscheinungen in den deutschen Strömen. - Verlagsbuchhandlung H. Costenoble: I-VIII, 1-104, Jena
  • Landesanstalt für Gewässerkunde (1904): Das Hochwasser im Oder- und Weichselgebiet vom Juli 1903. - Haus der Abgeordneten - Drucksache Nr. 175: 2638-2662, 2680, 8 Anl., Berlin
  • [3] Fischer, K. (1907): Die Sommerhochwasser der Oder von 1813 bis 1903. - Jahrbuch für die Gewässerkunde Norddeutschlands. Besondere Mitteilungen 1 (6). Königliche Hofbuchhandlung E.S. Mittler und Sohn: I-IV, 1-101, 15 Bl., Berlin
  • [4] Hellmann, G. & Elsner, G.v. (1911): Meteorologische Untersuchungen über die Sommerhochwässer der Oder. - Veröffentlichungen des Königlich Preußischen Meteorologischen Instituts 230. Behrend & Co.: I-XI, 1-235; Atlas: 55 Taf., Berlin
Schadensbilanz
  • Anonymus (1903b): Zu den jüngsten Ueberschwemmungen der Oder. - Der Kulturtechniker 6: 302-322, Anl., Breslau
  • [5] Gregor, J. (1903): Die Ueberschwemmungen an der oberen Oder und die Hilfsaktion. - Verlag J. Schmitzel: 1-36, Ratibor
  • [6] Hamel, F. & Fischer, K. (1903): Denkschrift über die Verbesserung der Vorflutverhältnisse der Oder. - 1-19, 16 Anl. [GeStA PK I. HA Rep. 89 Nr. 29340]
  • [7] Anonymus (1904a): Deichbrüche an der Oder. Juli 1903. - Der Kulturtechniker 7: 45-47, Anl., Breslau
  • Anonymus (1904b): Die Hochwasser- und Überschwemmungsschäden in Preußen im Jahre 1903. - Statistische Korrespondenz 30 (33): 1-2, Berlin
  • [8] Anonymus 1904c): Die Hochwasser- und Überschwemmungsschäden nach ihrer Art in Preußen 1903. - Statistische Korrespondenz 30 (37): 1-2, Berlin
  • [9] Preußisches Haus der Abgeordneten (Hrsg.) (1904): Denkschrift über die staatliche Hilfsaktion aus Anlaß von Unwetterschäden im Jahre 1903. - Haus der Abgeordneten - Drucksache Nr. 175: 2663-2680, Berlin
  • Schoenaich-Carolath, F., Prinz zu (1904): Aus den Verhandlungen der Landwirtschafts-Kammer für die Provinz Schlesien. - Der Kulturtechniker 7: 10-45, Anl., Breslau
Stoffliche Belastung
  • [10] Lüdecke, C. (1920): Das Hochwasser der Oder in den Jahren 1902 und 1903 und die mit dem Wasser bei Breslau abgeflossenen schwebenden und gelösten Stoffe. - Der Kulturtechniker 23 (4): 163-181, Breslau
Sonstiges
  • Anonymus (1903c): Die Oderfischerei nach dem Hochwasser. - Fischerei-Zeitung 6: 635-636, Neudamm
  • Fischer, K. (1912): Die Einwirkung der Oder, besonders ihrer Hochwässer, auf das Stettiner Haff. - Zentralblatt der Bauverwaltung 32 (27): 169-171, Berlin